Im Zeitalter der "visuellen Flut" sind unsere Sehnerven überreizt. Wir haben die Netzhaut mit einer Hornhaut vertauscht und das Sehen verlernt. Tagesschauen, Titelblätter und die Revuen der Sensationen verstellen das Detailerlebnis. Wer betrachtet schon eine Hummel - falls ihm noch eine begegnet.

Zu ersten Mal angekommen - wusste ich, der liebe Gott hatte mich in seinen Garten eingelassen. Zum zweiten Mal angekommen, war ich schon zu Hause zwischen Mont Ventoux und Lubéron. Zum dritten Mal angekommen, wollte ich bleiben. Ein Ort für Augenmenschen. Auch für Nasenmenschen. Oder für Wahrnehmer. Nach diesem Rotwein aus Lourmarin in Lourmarin werde ich mich unter einen blühenden Kirschbaum legen. Vive la vie! 

Bitte nicht fragen: War es das flirrende Licht? Waren es die Farben von Roussillon? Oder der sinnenbetäubende Lavendelduft? Oder der Vollmond über Gordes? Oder die Märkte von L'Lisle-sur-Sorgue? Oder die gestutzten Platanen vor der mairie? Oder die Geborgenheit der hameaux, der ländlichen Behausungsgruppen? Oder die stillen Alleen? Oder war es nicht ein Quentchen von allem zu einer erregenden Mischung angerichtet - dank dem großen Erfinder!                                             

Aus: Jürgen Spohn "Augenreise durch die Provence"

 

Lettres de mon moulin

 

Vor Maître Honorat Grapazi, Notar in der Residenz Pampérigouste, sind gemeinsam erschienen Herr Gaspard Mitifio, Landwirt im Ort Les Cigalières und daselbst wohnhaft, welcher verkauft und übertragen hat an Herrn Alphonse Daudet, Dichter, wohnhaft in Paris, eine Wind- und Getreidemühle, belegen im Rhônetal, mitten im Herzen der Provence auf einem mit Pinien und immergrünen Eichen bewaldeten Hügel; unter Hinweis auf die Tatsache, dass genannte Mühle seit über zwanzig Jahren verlassen ist und außerstande zu mahlen, wie deutlich ersichtlich aus dem wilden Wein, Moos, Rosmarin und anderem parasitärem Grün, das bis zu ihren Flügelspitzen hinaufrankt.

Nichtsdestoweniger erklärt der Herr Daudet, die genannte Mühle, so wie sie steht und liegt, mit ihrem zerbrochenen Rad, ihrem Vorplatz, auf dem das Unkraut zwischen den Ziegelsteinen hervorsprießt, ganz seinem Wunsch gemäß zu finden und wohlimstande, seinen dichterischen Arbeiten zu dienen, übernimmt sie auf eigene Gefahr und Kosten und ohne jeglichen Regressanspruch an den Verkäufer wegen Reparaturen, die dort etwa vorgenommen werden könnten. Dieser Verkauf geschieht in Bausch und Bogen zum vereinbarten Preis, das alles im Angesicht des Notars und der Zeugen, die unterzeichnet haben, worüber Quittung unter Vorbehalt.

Die Kaninchen waren höchst überrascht... So lange hatten sie nun die Tür der Mühle verschlossen gesehen und Mauern und Vorplatz von Unkraut überwuchert, dass sie endlich geglaubt hatten, das Geschlecht der Müller sei ausgestorben, und weil ihnen der Ort gefiel, hatten sie daraus eine Art Hauptquartier gemacht, ein Zentrum für ihre strategischen Operationen: die "Mühle von Jemappes" der Kaninchen ...

Am Abend meiner Ankunft saßen da, ungelogen, wohl an die zwanzig auf dem Vorplatz in der Runde und wärmten ihre Pfötchen an einem Mondstrahl... Nur eine Luke einen Spalt breit zu öffnen genügte, frrrt! war das ganze Feldlager in wilder Flucht, und all die kleinen, weißen Hinterteilchen sausen, das Sterzchen in die Höh', ins Dickicht. Ich hoffe nur, dass sie wiederkommen.

Einer, der sich auch sehr gewundert hat über meinen Anblick, ist der Mieter aus dem ersten Stock, ein alter, finsterer Uhu mit Denkerkopf, der die Mühle schon seit über zwanzig Jahren bewohnt. Aber was tut‘s! So, wie er da ist, mit seinen blinzelnden Augen und seiner verdrießlichen Miene, gefällt mir dieser schweigsame Mieter gerade besser als irgendein anderer, und ich habe mich beeilt, ihm seinen Mietvertrag zu erneuern. Ihm bleibt wie bisher der ganze obere Stock der Mühle mit einem Eingang durch das Dach.

Mir selbst behalte ich den unteren Raum vor, eine kleine, mit Kalk geweißte Kammer, niedrig und gewölbt wie das Refektorium eines Klosters. Von dort also schreibe ich Ihnen, bei weit offener Tür, mitten in der warmen Sonne. Ein hübsches Piniengehölz purzelt, ganz von Licht durchfunkelt, von mir bis hinunter an den Fuß des Hügels. In den Horizont zeichnen sich die feinen Grate der Alpilles... Kein Laut... Kaum hier und da ein Querpfeifenton, ein Brachvogelruf im Lavendel, das Schellengeläut eines Maulesels auf der Landstraße ... Dieses ganze schöne provenzalische Land lebt allein durch das Licht. 

Aus: Alphonse Daudet "Briefe aus meiner Mühle"